Es
ist unmöglich, Neues zu erfinden
Ein Gespräch mit
dem kolumbianischen Schriftsteller Tomás González
Von: María Ignacia Schulz und Juan Rodríguez Pira
Übersetzung: Karina Theurer
alba magazin, 2013
Tomás González, der als das bestgehütete Geheimnis der kolumbianischen Literatur gehandelt wird, sprach mit „alba“ über jene Elemente, die er in seinen Büchern immer wieder aufgreift, über seine persönliche Beziehung zu Europa und über seine Hochachtung vor der Lyrik, welche ihn zur kontinuierlichen Neuschreibung von Mangroven (Manglares) führt, seinem einzigen Gedichtband.
Juan: Tomás, bald erscheinen zwei Bücher von Dir …
Ja. Der Erzählband erscheint im Dezember 2012 und ein Roman Ende 2013. Der Roman Temporal spielt im Golf von Morrosquillo. El lejano amor de los extraños trägt den Titel einer der Erzählungen, die von Liebe und Liebesverlust handeln, ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzen wird solange es Literatur oder im Allgemeinen Kunst gibt, ebenso wie mit dem Thema des Todes. Sehr lange habe ich mich an diesen Erzählungen abgemüht. Erzählungen sind eine sehr schwierige Gattung und ich habe es einfach nicht geschafft, sie abzuschließen oder nicht das Gefühl gehabt, sie abgeschlossen zu haben.
J: Sprechen wir ein wenig über Deine Bücher. In Die Teufelspferdchen kommt der Leser in Kontakt mit einer expliziten Arbeit an der Sprache; die Kadenz und der Rhythmus sind Protagonisten.
In diesem Roman habe ich versucht, die Handlung im eigentlichen Sinn auszublenden und ich habe versucht, die Entwicklung durch den Rhythmus entstehen zu lassen. Sie sollte sich in dem Maße entfalten, wie der Rhythmus allmählich in Schwingung gerät. Aus diesem Grund ist der musikalische Aspekt hier so wichtig. Ich wollte, dass der Roman sich mehr über das Musikalische entfaltet als über die Geschichte. Manchmal ist es ermüdend, eine Geschichte zu erfinden und die ganze Arbeit der Baukunst, des Mauersetzens, des Rohreverlegens und so weiter erbringen zu müssen.
María: Bist Du zufrieden mit dem Ergebnis?
Ja, weil ich gemacht habe, was ich mir vorgenommen hatte. Allerdings ist dieser Roman schwieriger zu lesen als meine anderen Romane. Die Musikalität der Sprache spielt eine größere Rolle für das Voranschreiten der Zeit als die Entwicklung der Handlung, und deshalb ist die Lektüre anspruchsvoller.
M: Der Roman kann tatsächlich als sehr intellektualisiert wahrgenommen werden. Entsteht dadurch nicht eine gewisse Distanz zwischen ihm und dem Leser?
Das kann natürlich passieren. Allerdings würde ich das nicht als Problem ansehen, sondern einfach als ein Charakteristikum dieses Romans. Der Geschmack der Leser ist ja unterschiedlich. Für manche mag gerade dieser Stil reizvoll sein, während er auf andere eher abschreckend wirkt. Es mag sein, dass ein Großteil der Leser eine direktere Ansprache bevorzugt, wie etwa in Das spröde Licht, wo die Gefühle zugänglicher, unmittelbar nachfühlbar sind. Die Teufelspferdchen hingegen verlangen dem Leser eine ästhetische, eine im Wesentlichen intellektuelle Arbeit ab, die schon eine gewisse Konzentration erfordert. Ich hätte mir gewünscht, beide Aspekte in einem Roman zu vereinen, aber das funktioniert einfach nicht immer.
J: Wenn man Deinen Roman Am Anfang war das Meer liest, ist es für einen Kolumbianer einfach, sich einen Stadt-Finquero vorzustellen, eine Hippie-Ausführung des Arturo Cova , Leser und Abenteurer. Diese Geschichte wird jetzt auch außerhalb von Kolumbien gelesen und berührt auch hier die Leser tief ... Was ist das Universelle in ihr?
Ich glaube, es ist die Sehnsucht nach dem Paradies. Die Suche nach dem, was wir alle verloren haben. Die Hoffnung, eines Tages doch noch einmal Zutritt zum Paradies auf Erden zu bekommen. Auf diese Suche begeben wir uns immer und immer wieder und so widerfährt uns jedes Mal dieselbe Tragödie: Wir streben nach Glück und stoßen vielmehr auf den Tod.
J: Im Unterschied zur spanischen Ausgabe wird in der deutschen Übersetzung erklärt, dass J. Dein Bruder ist und es wird sogar der genaue Ort genannt, an welchem die Geschichte spielt. Die spanische Ausgabe lässt der Imagination des Lesers im Hinblick auf den Ort freien Lauf und verweist nicht darauf, dass ein Familienangehöriger tatsächlich dort war. Wie stehst du zu dieser Art der biographischen Anknüpfung von Literatur?
Peter [Schultze-Kraft, Tomás González’ Übersetzer, Anm. d. Redaktion] hat diese Entscheidung getroffen, weil er es wichtig fand, den deutschen Lesern diese Informationen zugänglich zu machen. Ich persönlich glaube, dass ein Roman keine über seinen Inhalt hinausgehenden Informationen benötigt und in einer spanischen Ausgabe würde ich mich gegen den Abdruck eines Prologs oder erläuternder Informationen aussprechen. Peter hielt es aber für wichtig, den Lesern in Deutschland eine Art Brücke zu bauen und ich vertraue ihm in der Hinsicht voll und ganz.
J: Es ist schwierig, dieses Buch nicht als Gründungsroman zu lesen. Viele Themen, die in Deinen anderen Büchern wieder auftauchen (Friedhöfe, Pflanzen, Risse, Ufer, Lebenskraft, Tod, Familie und Häuser) sind hier schon angelegt. Du hast bereits gesagt, dass Du Dich gezielt wiederholst. Wie ist diese Themenkette entstanden und wie hast Du sie Dir zu eigen gemacht?
Es funktioniert wie ein Kaleidoskop. Vorhanden sind immer dieselben Bestandteile, aber die Umstände verändern sich und das Bild ist mit jeder Drehung ein komplett anderes. Es ist unmöglich, Neues zu erfinden. Man hat, was man hat, und ausgehend von diesem Material arbeitet man daran, verschiedene Geschichten zu erzählen. Das spröde Licht und Am Anfang war das Meer weisen die Obsessionen auf, die Du erwähnst, aber die beiden Geschichten unterscheiden sich stark voneinander, wenn auch die Bestandteile für beide die Liebe zur Pflanzenwelt, die Liebe zum Meer, die Grenze zum Tod, etc. sind.
J: Schon im Epigraph zu Am Anfang war das Meer liegt diese archetypische Stimmung in der Luft. Das Leben ersteht auf und alles klingt nach Schöpfungsmythos.
Ja, und auch ein religiöses oder eher mystisches Gefühl. Es ist dasselbe, das sich durch die anderen Bücher zieht und dasselbe, das ich in meiner Praxis des Zen bewahre. Es ist das Wissen darum, die Unendlichkeit in den Gedichten und Romanen berühren zu können, an diese Grenze zu gelangen, an der das Individuum den Punkt erreicht, an dem es aufhören wird, ein Individuum zu sein. Immer habe ich versucht, die konkreten und kleinen Ereignisse um die Figuren herum in diese tiefe mystische Perspektive einzuschreiben. Für mich lohnt sich Literatur dann, wenn sie sich darum bemüht und ihr das gelingt. Aus diesem Grund kann ich keine Achtung vor jenen Handlungsverknotungen empfinden, denen es darum geht, den Leser am Schlafittchen zu packen, Millionen von Exemplaren zu verkaufen und irgendeinen hochdotierten Preis einzuheimsen. Für mich ist das Schundliteratur, egal wie gut sie geschrieben sein mag. Es reicht nicht aus, nur gut zu schreiben.
J: Viele Deiner Romane erzählen von Gewalt und Tod, aber vielleicht keiner auf so brutale und grausame Weise wie Die versandete Zeit, in dem von Ereignissen des Ersten Weltkriegs berichtet wird. Wenn wir Dein Werk als eine Reflexion über das ständige Leben mit der Gewalt begreifen, „überrascht“ es (und dabei betone ich die Anführungszeichen), dass diese Gewalt gerade in Europa am deutlichsten und zerstörerischsten dargestellt ist.
Es hat mich immer gestört, dass die Europäer dazu neigen, die Gewalt bei uns als eine zu betrachten, die sich von der ihren unterscheidet. Sie fragen einen sogar, was denn in Kolumbien im Wasser sei, das uns so gewalttätig mache. Und das aus dem Mund von Gesellschaften, in welchen die Gewalt weit größere Ausmaße erreicht hat als bei uns. Die Regierung der Vereinigten Staaten gab den Befehl, Atombomben auf zwei Städte abzuwerfen, das heißt, sie befahl, 200.000 Menschen in zehn Minuten zu töten. Wann haben wir je auf diese Weise gemordet? Und das nicht etwa, weil wir nicht dazu fähig wären, denn jeder Mensch ist dazu fähig, sondern weil uns die Technologie dazu fehlt. Die Gemetzel während des Ersten Weltkriegs und kurz darauf im Zweiten waren groß angelegt, die absolute Hölle. Deshalb nervt das gute Gewissen, an dem manche Personen leiden, die man ansonsten durchaus wertschätzt. Diese Menschen glauben wirklich, dass wir in Kolumbien irgendein psychisches Problem haben, von dem sie nicht betroffen sind. Was absurd ist. In Europa brechen seit vielen Jahrhunderten, Jahrtausenden, in regelmäßigen Abständen die schrecklichsten und massivsten Gräuel los. Etwas im Wasser vielleicht.
M: Du hast erwähnt, dass Dir Europa sehr dunkel und bedrückend vorkommt und dass Du Dich hier sehr fremd fühlst. Ist Europa ein möglicher Ort für die Zukunft?
Ich könnte nicht in Europa leben, aus irgendeinem Grund macht es mich traurig. Vielleicht liegt es daran, dass ich zufälligerweise immer im Herbst hier war und deshalb nicht weiß, wie es im Sommer oder im Frühjahr hier ist. Die lichterfüllte Seite von Europa kenne ich nicht. Noch vor zwei oder drei Jahren hätte ich sehr gerne ein Jahr lang in Berlin gewohnt, der Stadt, die mir gefällt – die in meinen Augen am wenigsten dunkle, und das trotz ihrer Geschichte. Aber jetzt nicht mehr. Inzwischen fällt es mir sehr schwer, das Land um meine Finca herum zu verlassen. Und wenn ich mich gezwungen sähe, aus meinem Land wegzugehen, würde ich New York oder vielleicht New Orleans wählen.
J: Wollen wir zu Die versandete Zeit übergehen? Schon der Titel [dt. wörtlich: Für vor dem Vergessen] legt nahe, dass es hier um das Verlangen geht, mittels der Erinnerung und der Literatur jene Menschen vor dem Vergessen zu bewahren, die sich lieben. Kann die Literatur diese Aufgabe erfüllen?
In Die versandete Zeit wollte ich eigentlich vielmehr aufzeigen, ab wann die Erinnerung verblasst, jener Punkt, ab welchem die Erinnerung sich auflöst, und mit ihr die Realität.
J: Ja, der Begriff der Auflösung wiederholt sich häufig …
Richtig. Darum ging es mir in diesem Roman. Ich wollte den Punkt herausarbeiten, an welchem die Destruktion und die Konstruktion identisch zu sein scheinen. Wenn eine Kathedrale erbaut wird und sie zur Hälfte fertig ist, unterscheidet sie sich kaum von einer, die einstürzt und sich inmitten ihres Zerfallsprozesses befindet. Dorthin wollte ich gelangen: an den Punkt, an dem beide Prozesse scheinbar nicht zu unterscheiden sind, tatsächlich aber alles auf das Vergessen hinausläuft.
J: Beim Lesen Deiner Bücher begegnet man vielen Familien, die auf dem Land leben, wie in Horacios Geschichte. In diesem Fall hat die Erinnerung etwas Idyllisches und Warmes …
Das kommt daher, dass sich meine Kindheit wiederholt. Diese Wärme, die Du ansprichst, ist die Zuneigung, die man demjenigen gegenüber empfindet, was man zwischen sechs und vierzehn Jahren erlebt hat. Diese Magie kommt nicht wieder und auch nicht dieses Grauen.
M: Abraham entre bandidos wiederum ist ein Roman, der eng mit der politischen Realität Kolumbiens verknüpft ist, mit der Zeit der Violencia. Hast Du Dir angesichts so vieler Bücher über dieses Thema nicht Sorgen gemacht, dass der Leser diese Art von Geschichten schon satt haben könnte?
Ich wusste, dass die Leute mehr als genug davon hatten, aber diese Geschichte war mir seit dreißig Jahren immer wieder durch den Kopf gegangen. Und bis dahin hatte ich es nicht geschafft, sie richtig niederzuschreiben. Zwei Versuche hatte ich da schon hinter mir; ich will damit sagen, dass es mir egal war, ob sie den Leuten gefallen würde oder nicht. Ich wollte sie endlich zu Ende bringen. Ohnehin glaube ich, dass das Thema der politischen Gewalt der fünfziger Jahre ein Dauerbrenner in Kolumbien sein wird. Jeder Schriftsteller wird irgendwann seine Version davon, wie er diese Gewalt erlebt hat, niederschreiben wollen.
M: Es ist ein Buch geworden, das außerordentlich präzise in seinen Personen- und Situationsbeschreibungen ist.
Ich habe im Vorfeld viel recherchiert. Es gibt sehr gute und aussagekräftige Texte über die Zeit der Violencia. Davon habe ich viel gelesen und so sind allmählich Charaktere entstanden. Außerdem waren da die Geschichten, die während meiner Kindheit auf der Finca meiner Großmutter in Santuario (Risaralda) über die in der Gegend verübten Gräuel kursierten. Ich erinnere mich etwa an die Geschichte einer jungen Frau aus der Nachbarschaft, die am Wegesrand einen Sack fand, ihn öffnete – und darin einen Haufen abgehackter Köpfe fand. Als Folge des Schocks hat ihre Haut allmählich ihre natürliche Pigmentierung verloren. Kreideweiß soll sie geblieben sein. Es gab viele Geschichten dieses Kalibers, die wir Kinder zu hören kriegten.
J: In Das spröde Licht, das zahlreiche Verweise auf Deine Gedichtsammlung Mangroven birgt, wird erzählt, wie alles zusammenströmt: wie der Schmerz und der Tod neben dem Leben und der Freude bestehen. Hier wird eine sich durch deine Bücher ziehende Ästhetik deutlich. Wie ist sie entstanden und zum Vorschein gekommen?
Am Anfang war alles intuitiv; es ging voran und nach einer gewissen Zeit habe ich begonnen, mir genauer anzuschauen, was ich gemacht hatte, es aus einer Außenperspektive heraus zu betrachten, so als ob ich selbst ein Kritiker wäre. Mir sind die Elemente aufgefallen, die sich wiederholen und die mich fesseln. Mittlerweile verwende ich sie bewusst, um zu sehen, was dabei passiert, ob ich mir dadurch neue Räume erschließen kann. Um zu sehen, auf welche Weise sich für mich zukünftige Möglichkeiten des Schreibens eröffnen können, wohin sie mich bringen können, oder wie ich dieser Werkzeuge, die ich auf intuitive Weise geschaffen habe, Herr werden kann. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, zu viel Bewusstheit beim Handeln ist nicht immer ein Vorteil. Aber man muss weiter probieren und schauen, was dabei herauskommt.
M: Zwischen der Veröffentlichung von Abraham entre bandidos und Das spröde Licht ist sehr wenig Zeit vergangen, wohingegen zwischen dem Erscheinen der meisten Deiner übrigen Bücher ungefähr drei Jahre liegen. Hast Du davor bereits an Das spröde Licht gearbeitet?
Ich glaube schon. Das Thema des Alterns der Hauptfigur David ging mir schon früher durch den Kopf. Ich wollte einen Roman über den gealterten David schreiben, der Rest war damals noch unklar. Ich stellte mir vor, dass er seinen Lebensabend in einem dieser Appartments mit Blick aufs Meer verbringen würde, in Coney Island. Dann aber kam ich nach Kolumbien zurück und beschloss, dass es doch anders würde. Mit mir kam David zurück und verbrachte seine letzten Jahre schließlich in La Mesa de Juan Díaz [eine Gemeinde in der Provinz Cundinamarca in Kolumbien]. Und dort klärte sich auch der Rest: Just zu jener Zeit hörte ich die Geschichte dieses jungen Mannes, der einen Unfall hatte, und die Einzelteile des Romans fügten sich zusammen. Jedenfalls hatte ich bereits lange davor über das Älterwerden nachgedacht. Das war für mich das zentrale Thema des Romans.
J: Wir haben bereits über die Liebe gesprochen, die diesen Roman ganz wesentlich prägt. Ein weiteres Element ist der Humor, eine Art Galgenhumor, wenn man etwa am Leichenbett einen Scherz über den Toten macht – einer aber, in dem sich die Liebe ausdrückt, die wir ihm gegenüber empfinden. Woraus schöpfst Du diese Art von Humor?
Der Sinn für Humor ist eine unermesslich wichtige Überlebensstrategie, die diesem sich Mensch nennenden Tier zur Verfügung steht. Mit einem Lachen schafft man es sogar, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Humor wirkt einfach befreiend.
M: In Mangroven lässt sich ein bewusster Prozess des Schreibens nachvollziehen. Gedichte erscheinen und verschwinden wieder, manche werden zum Gegenstand tiefgreifender Umgestaltung. Spielst Du da mit dem Leser oder mit Dir selbst?
Nein, nicht mit dem Leser, mehr mit mir selbst. Ich glaube, dass jede einzelne Fassung widerspiegelt, wer ich im jeweiligen Augenblick bin. Wahrscheinlich habe ich mich in den Gedichten, die herausgefallen sind oder sich verändert haben, selbst nicht mehr wiedergefunden. Mir ist es lieber, dass mich das Buch so widerspiegelt, wie ich es Dir geschickt habe und nicht mittels der Gedichte, die ich rausgenommen habe.
M: Woher stammt dieses Bedürfnis, gerade im Bereich der Lyrik ein sich im kontinuierlichen Schaffensprozess befindliches Werk zu haben, und nicht etwa in anderen Gattungen?
Weil ich mich in der Lyrik in stärkerem Maße widerspiegelt fühle. Im Roman gibt es einen indirekten Aspekt: Ich erschaffe einen Charakter und dieser bin ich in gewisser Weise, aber nicht ganz. Und weil man sich konstant verändert, verändert sich – in dem Maße wie ich mich verändere – allmählich das Buch. Das war die Idee dahinter.
M: Du hast Deine Hochachtung vor der Lyrik zum Ausdruck gebracht, und dass es Dir eine der schwierigsten Gattungen zu sein scheint. Schwingt da eine gewisse Furcht davor mit, einen abgeschlossenen Lyrikband herauszugeben oder ist es eine Strategie, den Leser um Nachsicht zu bitten?
Es ist Beides. Einerseits ist es so, als würde ich sagen: „Das hier ist provisorisch, aber ihr könnt hier schon sehen, wozu ich fähig sein werde. Gebt mir noch Zeit.“ Andererseits finde ich, dass es immer etwas traurig ist, ein Buch zu beenden, ein wenig düster. Es immer unvollendet zu haben macht es lebendiger. Und es besteht die Möglichkeit, dass die Gedichte viel besser werden. Es ist auch in dieser Hinsicht lebendig. Lebendig in jeglicher Hinsicht.
M: Ist Mangroven dein Lieblingsbuch?
(Stille). An Gedichten, ja.
M: Du hast ja nur einen Gedichtband (Lachen). Und was Prosa anbelangt?
Da habe ich keine Favoriten. Gerade schreibe ich an einem neuen Roman, aber ich befürchte, dass es da schon wieder um einen Herren gehen wird, der auf einer Finca lebt. Vielleicht kann ich jetzt gar nicht mehr aufhören, über Männer auf Fincas zu schreiben, weil ich nichts Neues mehr kennenlerne. Ich habe selbst eine gekauft, zu der vier Seen gehören, wie in Die Teufelspferdchen, wobei das Zufall war. Eine Freundin, die neulich dorthin kam, hat mir gesagt, ich würde im Roman leben. Ein Zimmer voller Gemälde habe ich auch. Solche Dinge geschehen unweigerlich, denn wenn man über etwas schreibt, dann deshalb, weil es einen interessiert hat, und wenn man es im wirklichen Leben besitzt, hängt man sich eben die Gemälde auf, die man im Roman an die Wand gehängt hatte.
M: Sprechen wir zum Schluss noch über die Literaturkritik. Das positive Feedback, das Du für Am Anfang war das Meer bekommen hast, hat Dich – wie Du in einem Interview gesagt hast – dazu motiviert, weiter zu schreiben. Welche Bedeutung hat die Literaturkritik heute für dich, da Du knapp ein Dutzend weitere Bücher veröffentlicht hast und auf eine Leserschaft sowohl in Kolumbien als auch darüber hinaus bauen kannst, die Dich wertschätzt?
Die Kritik gibt mir grobe Richtungen vor. Sie gibt mir Anregungen, worüber ich schreiben könnte, womit ich mich auseinandersetzen könnte. Sie konfrontiert mich mit den Schwachpunkten meiner Arbeit und zeigt mir aber auch ihre Stärken. Sie hilft mir, bei meiner weiteren Arbeit diese Aspekte zu beachten. Indem ich auf die Stimmen der Literaturkritik achte, höre ich den Lesern zu, denn was anderes ist ein Literaturkritiker als ein Leser, der gelernt hat, seine Meinung präzise zu formulieren.